Beim 48. Workshop Medizinethik stand »Entscheidungsfindung als Herausforderung im Klinikalltag« im Fokus

· Wessen Wille geschehe?
Leben oder Sterben wollen? Viele Patienten können diese Frage nicht mehr beantworten. Foto: Fotolia

Wer entscheidet darüber, welche Behandlung die Richtige ist? Wie autonom sind Patienten in ihrem Willen? Welche Rolle haben Ärzte, Seelsorgende und das Pflegepersonal, wenn es um Leben und Tod geht? Diesen Fragen standen im Mittelpunkt des 48. Workshops Medizinethik, den die Evangelische Akademie gemeinsam mit dem St. Joseph Krankenhaus Berlin Tempelhof ausgerichtet hat.

Über die Tagung berichtet die Journalistin Adelheid Müller-Lissner:

»Was machen die Krokusse?«, fragt Valerie, die an diesem sonnigen Frühlingstag schwungvoll und fröhlich den Garten ihrer Mutter betritt. Sie freut sich nach einer anstrengenden Woche auf den samstäglichen Kaffeeklatsch. Doch die Mutter schlägt gleich einen ernsten Ton an. »Die Krokusse? Die sehen aus wie ich: Sie neigen sich dem Ende zu!« Die ältere Dame wirkt zwar noch recht fit, ihr steht in der nächsten Woche aber ein chirurgischer Eingriff bevor. Zuvor möchte sie etwas erledigen, das sie schon länger vor sich herschiebt: Sie möchte eine Patientenverfügung erstellen, und sie hofft dafür auf die Mithilfe ihrer Tochter.

Die Vorstellungen der älteren Dame über den Inhalt der geplanten Verfügung sind zwar noch recht vage. Doch eines weiß sie:  Sie möchte es ihren beiden Kindern nicht antun, ohne Anhaltspunkte bezüglich des Willens ihrer Mutter zu sein, falls sie selbst sich eines Tages nicht mehr klar äußern kann und eine Behandlungsentscheidung ansteht.

Mit dieser kleinen Szene eröffnete der Arbeitskreis Ethische Anspielungen des St. Joseph-Krankenhauses Berlin-Tempelhof in bewährter Weise den 48. Workshop Medizinethik, den das Krankenhaus am 9. März 2019 wieder zusammen mit der Evangelischen Akademie zu Berlin organisiert hatte. Der Wunsch der fiktiven Mutter im szenischen Anspiel nach Vorsorge für den Ernstfall führte direkt zum Thema des Tages hin: »Mein Wille geschehe – Entscheidungsfindung als Herausforderung im Krankenhaus«.

»Gottgewollte Autonomie« des Menschen

Gastgeber Prof. Dr. Thomas Poralla, Chefarzt der Medizinischen Klinik I des St. Joseph-Krankenhauses, wies in seiner Begrüßung darauf hin, dass der Titel als Abwandlung der Vater-unser-Bitte »Dein Wille geschehe« zunächst »ketzerisch« anmuten könnte.  Prof. Dr. theol. Andreas Lob-Hüdepohl  von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin legte ihn in seinem Vortrag jedoch ganz anders aus:  Dass der Mensch eigene Entscheidungen treffe und seinem eigenen Willen entsprechend handele, sei aus theologischer Sicht richtig. Die Selbstbestimmung sei nicht nur ein »Signalwort des Selbstverständnisses moderner Menschen«, sondern müsse auch aus christlicher Sicht ein roter Faden der Lebensführung sein.  Das gebiete die »gottgewollte Autonomie« des Menschen, der mit dem Heiligtum des Gewissens ausgestattet sei. Daraus resultiere auch bei Behandlungsentscheidungen ein »Verbot paternalistischer Dazwischenklemmungen«, ob sie nun von ärztlicher oder seelsorgerischer Seite kommen mögen.

Das heiße allerdings nicht, dass  Ärztinnen und Ärzte ihre Patienten mit der Entscheidung für oder gegen eine Behandlung allein lassen sollten.  Aus ihrer professionellen Perspektive müssten sie ohnehin zunächst über die »Angemessenheit und Angezeigtheit« diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen entscheiden, so führte Lob-Hüdepohl aus. Neben der fachlich-medizinischen gehe es dabei im umfassenderen Sinn um die ärztliche Indikation. Im Prozess des »Shared Decision Making«, der gemeinsamen Entscheidungsfindung,  suchen Behandler und Patienten heute zusammen nach der Lösung, die dem Wohl des Erkrankten am besten dient. Hier müsse man gemeinsam erkunden und beraten, die letzte Entscheidung liege aber beim Patienten, hob der Professor für Katholische Ethik hervor. »Eine Letztentscheidung ist jedoch keine Alleinentscheidung. Denn niemand lebt für sich allein, und auch die Auswirkungen der Entscheidung auf die Nächsten sind zu bedenken.«  Beim Prozess des Nachdenkens darüber und bei der Abfassung von Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügungen können Menschen Unterstützung gebrauchen. Lob-Hüdepohl begrüßt  deshalb das »Advanced Care Planning« (ACP), für das sich im deutschsprachigen Raum der Begriff »Behandlung im Voraus planen« (BVP) eingebürgert hat.

»selbstinduzierte Fremdbestimmung«

Er wies jedoch auf eine grundlegende Schwierigkeit hin: Festlegungen des eigenen Willens für zukünftige Situationen sind prinzipiell heikel. »Das Problem ist hier, inwieweit wir den Willen ausreichend antizipieren können.« Aus der Vorwegnahme einer Entscheidung, die erst zu einem späteren Zeitpunkt und unter veränderten Bedingungen Gültigkeit erlangt und dann bindend wird, könne im Einzelfall auch eine  »selbstinduzierte Fremdbestimmung« entstehen.  Aus Patientenperspektive sei zudem grundsätzlich auch zu akzeptieren, wenn ein Mensch nicht mit diesen Fragen behelligt werden wolle. »Auch das kann mein Wille sein.« Insgesamt plädierte der Theologe dafür, das Thema »so gewissenhaft, aber auch so geruhsam und gelassen wie möglich« anzugehen.

»80 Prozent der Menschen, die zu uns kommen, sterben an den Folgen chronischer Erkrankungen«, berichtete später Dr. Christoph Büttner, Leitender Oberarzt der Intensivstation am St. Joseph-Krankenhauses und Leiter des dortigen Ethikkomitees. »Sie haben also Zeit, vorher zu überlegen.« Und das mit Bezug auf ihre eigene Erkrankung. »Leider treffen Patientenverfügungen aber nur selten den Punkt, den wir brauchen.« Der Intensivmediziner berichtete vom Fall eines 80-Jährigen mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, der nach der günstig verlaufenen Operation vorübergehend mittels einer Magensonde ernährt werden sollte. Weil er nach dem Eingriff im Delir war, konnte sein Einverständnis nicht eingeholt werden. In der Patientenverfügung hatte er zwar geschrieben: »Keine Magensonde!« – aber das hatte er mit größter Wahrscheinlichkeit auf eine dauerhafte künstliche Ernährung bezogen. Büttner kritisierte zudem, dass die Ärzte, die Patienten mit langwierigen chronischen Erkrankungen jahrelang behandeln, zu selten mit ihnen über typische kritische Situationen reden. Dabei dürfe auch das Wort »Sterben« nicht ausgespart werden. Am Beispiel einer schweren Lungenkrankheit im Endstadium machte er deutlich, dass die Wünsche der Patienten sehr verschieden sind, wenn die Frage des Luftröhrenschnitts und der dauerhaften Beatmung ansteht: Zwei Patienten Ende 60 trafen in dieser Situation sehr unterschiedliche Entscheidungen. Der eine wurde extubiert und verstarb nach sieben Tagen, der andere entschied sich für die Heimbeatmung. Diese Entscheidung konnten die wachen Patienten selbst treffen. Der Gesprächsprozess des ACP könne dabei helfen, zu persönlichen Entscheidungen kommen und dadurch auch die Angehörigen entlasten, betonte Büttner.

Gibt es Anhaltspunkte für einen mutmaßlichen Patientenwillen?

Wie wichtig dieser Aspekt der Entlastung ist, bestätigte Katja Freund, Beraterin für Ethik im Gesundheitswesen und Koordinatorin für Ethikberatung an der Medizinischen Hochschule Hannover. »Viele Angehörige finden: Ich kann doch hier nicht über Leben und Tod entscheiden.« Zudem seien sich die Angehörigen oft in der konkreten Situation nicht einig. Und besonders schwierig werde es, wenn es weder Angehörige noch eine Patientenverfügung gebe. In den Sitzungen der multiprofessionellen klinischen Ethikkomitees, die meist eine bis eineinhalb Stunden dauern, wird neben den medizinischen Aspekten des jeweiligen Falls auch ausführlich darüber gesprochen, ob Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen des Patienten vorliegen und wie er oder sie persönlich auf das Behandlungsteam wirkt. »In 95 Prozent der Fälle erzielen wir einen Konsens«, berichtete Katja Freund, die selbst auch heute noch zu 30 Prozent auf der neurochirurgischen Intensivstation als Pflegekraft tätig ist und den Klinikalltag gut kennt. Eine Auswertung von 192 Fallbesprechungen aus ihrer Klinik ergab, dass in neun von zehn Fällen therapeutische Konflikte der Grund für die Zusammenkünfte des Teams waren, »in den meisten Fällen am Lebensende«.

Und was soll geschehen, wenn Patienten unter einer Demenz leiden, nicht mehr uneingeschränkt urteils- und entscheidungsfähig sind, sich nicht mehr sprachlich äußern können? »Es lohnt sich auf jeden Fall, mit ihnen zu reden!«, legte die Diplom-Gerontologin Margret Schleede-Gebert, Koordinatorin an der Diakonischen Fort- und Weiterbildungsakademie in Hamburg, den Teilnehmern des Workshops ans Herz. Sie warnte davor, das Etikett »Demenz« zu undifferenziert zu verwenden. »Man muss in Phasen denken, und in Demenzformen.« So gebe es bei der vaskulären Demenz starke kognitive Schwankungen, klare Momente können also für wichtige Gespräche genutzt werden. Auch wo Selbstbestimmung nicht mehr in vollem Umfang möglich ist, sei es für die Betroffenen wichtig, sich ernst genommen zu fühlen und Selbstwirksamkeit zu erleben. Für ethische Fallbesprechungen in Altenheimen seien die Eindrücke entscheidend, die die Mitglieder des Teams im persönlichen Kontakt mit dem Bewohner oder der Bewohnerin gewonnen haben, ebenso die Informationen, die über seine Weltsicht gewonnen werden konnten, betonte die Gerontologin. Inzwischen existieren verschiedene Konzepte, nach denen die Fallbesprechungen strukturiert werden können, für Altenheime etwa ein Instrumentarium der Katholischen Universität Nimwegen und des Erzbistums Köln.

Weltanschauliche Überzeugungen als Anhaltspunkte für den vermuteten Willen

Eine medizinische Behandlung erfülle in rechtlicher Hinsicht den Tatbestand der Körperverletzung, so hatte die Juristin Prof. Dr. jur. Tanja Henking von der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt in ihrem Vortrag schon am Vormittag dargelegt. Legitimiert ist sie jedoch durch zwei Dinge: Durch die medizinische Indikation und durch den Willen des Patienten.  Paragraph 1901a des Bürgerlichen Gesetzbuches, der viel diskutierte Abschnitt zu Patientenverfügungen, verschafft in großer Klarheit dem früher geäußerten Willen von Menschen Geltung, die zum aktuellen Zeitpunkt in eine Untersuchung oder Behandlung nicht einwilligen oder sie ablehnen können. Liegt eine Patientenverfügung vor, so müssen Betreuer oder Bevollmächtigte prüfen, ob sie auf die aktuelle Lebenssituation angewandt werden kann. Liegt kein solches Schriftstück vor oder passt es nicht zur konkreten Lage, dann sind nach dem Willen des Gesetzgebers die Wünsche und der mutmaßliche Wille »aufgrund konkreter Anhaltspunkte« zu ermitteln. Dafür sind die  weltanschaulichen Überzeugungen des Erkrankten und frühere Äußerungen von Bedeutung. »Das alte Bild, dass der Arzt am besten weiß, was für seinen Patienten gut ist, ist auf jeden Fall überholt«, so Juristin Henking.  Die Bundesärztekammer und die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO) haben in ihren aktualisierten »Hinweisen und Empfehlungen zum Umgang mit Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen im ärztlichen Alltag« im Jahr 2018 deshalb festgehalten, dass Ärzte ihre Patienten in bestimmten Fällen von sich aus auf die Möglichkeit von vorsorglichen Willensbekundungen ansprechen sollten. Zu den Instrumentarien dafür gehören neben der Patientenverfügung auch die Betreuungsverfügung und die von Juristen als besonders geeignet betrachtete umfassendere Vorsorgevollmacht. Henking betonte, dass für Patientenverfügungen keine Beschränkung der Reichweite gilt. »Ich muss nicht erst sterbenskrank sein.« Doch es sei wichtig, dass die enthaltenen Aussagen bestimmt genug sind, um auf konkrete Situationen angewandt zu werden. Die Formulierung ‚Ich wünsche keine lebenserhaltenden Maßnahmen‘ genüge dieser Anforderung nicht. »Der BGH hat andererseits aber auch festgehalten, dass die Anforderungen an die Bestimmtheit nicht überspannt werden dürfen.« Der Patientenwille könne und müsse nötigenfalls auch anhand von Informationen ermittelt werden, die im Gespräch mit den Angehörigen gesammelt wurden.

Dass Valeries Mutter sich wünscht, mit der Tochter (und mit dem Sohn, der beim Kaffeklatsch nicht dabei sein konnte) über ihre Wünsche und Vorstellungen zu sprechen, ist also ausgesprochen sinnvoll. Auch ihren Wunsch, eine Vorsorgevollmacht oder eine Patientenverfügung zu erstellen, sollten ihre Kinder ernst nehmen. Dann kann es in der Familie zu guten Gesprächen darüber kommen, die auch den Jüngeren etwas bringen.

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Corinna Riemer - Leiterin Unternehmenenskommunikation
Corinna Riemer
Leiterin Unternehmenskommunikation

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