Chefarzt Dr. Hans Willner im Interview über 15 Jahre Klinik für seelische Gesundheit im Kindes und Jugendalter

· »Durch Digitalisierung mehr Chancen als Risiken für Kinder und Jugendliche«
Chefarzt Dr. Hans Willner

Die Klinik für seelische Gesundheit im Kindes- und Jugendalter am St. Joseph Krankenhaus Berlin Tempelhof feiert in diesem Jahr ihr 15jähriges Bestehen. Chefarzt Dr. Hans Willner spricht über Meilensteine seiner Klinik sowie neue Chancen und Risiken im Zusammenhang mit Digitalisierung und Migration.

Herr Dr. Willner, wie kam es vor 15 Jahren zur Gründung Ihrer Klinik in Tempelhof?

Auslöser war die Psychiatrieplanung des Landes Berlin: Die zentrale West-Berliner Einrichtung für Kinder und Jugendliche »Im Wiesengrund« in Reinickendorf wurde geschlossen; es folgte die regionale Aufteilung in kleinere, gemeindenähere stationäre Angebote. Heute haben wir in Berlin sechs Kliniken, die jeweils für bestimmte Bezirke zuständig sind. Wir sind als sogenannte Vollversorger für Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf verantwortlich.

Welche Vorteile hat das für die jungen Patienten?

Die wohnortnahe Betreuung im eigenen Lebensraum führt zu einer intensiveren Zusammenarbeit mit den Familien. Es gibt ein besseres lokales Netzwerk aus Schulen, Therapeuten, Ärzten und anderen Hilfsangeboten. So kann man z. B. in vielen Fällen eine stationäre Behandlung vermeiden. Auch die Nachsorge gelingt leichter, wenn man vor Ort gut vernetzt ist.

Im Namen Ihrer Klinik wurde vor einigen Jahren aus »Psychiatrie« der Begriff »seelische Gesundheit«. War das mehr als nur ein neues Türschild?

Dahinter steht ein langer Prozess in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung. Von der Psychiatrie-Enquete im Jahr 1975 über die UN-Kinderrechtskonvention 1990 und die UN-Behindertenrechtskonvention 2008 zieht sich eine kontinuierliche Entwicklungslinie. Die Würde des Einzelnen spielt heute eine deutlich wichtigere Rolle als früher, der Umgang mit den Patienten ist weniger restriktiv, stattdessen mehr von Selbstverantwortung und Mündigkeit geprägt. Die erste Einrichtung, die diesen Begriff verwendet hat, ist das Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim, eine der wichtigsten Behandlungs- und Forschungsinstitutionen auf diesem Gebiet in Deutschland.

Unser Anspruch ist es, Kinder, Jugendliche und ihre Familien dazu anzuleiten, für ihre »Gesundheit« selbst Verantwortung zu übernehmen. Und mit »seelisch« bringen wir zum Ausdruck, dass wir in einem christlichen Kontext arbeiten und daher auch die Seelsorge mit in unser Therapieangebot integriert ist.

Was hat sich in der Prävention und Therapie seelischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen am meisten verändert?

Die Psychotherapie – im stationären Setting durch ein multiprofessionelles Team – ist immer stärker in den Vordergrund getreten; die medikamentöse Behandlung kann dadurch in vielen Fällen gezielter und nachrangiger eingesetzt werden.

Selbst bei so weitverbreiteten Störungen wie dem Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom ADHS?

Dieses Krankheitsbild ist gar nicht so weit verbreitet wie angenommen. Wesentlich häufiger sind Angst- und depressive Störungen, Suchtstörungen sowie Störungen des Sozialverhaltens. Zum Einsatz von Medikamenten haben wir gerade beim AD(H)S inzwischen sehr gute Leitlinien. Es wird genau hingeschaut, ob und wenn ja welches Medikament notwendig ist. Die Entscheidung darüber fällt zusammen mit den Kindern bzw. Jugendlichen und deren Eltern.

Im Mittelpunkt Ihres Jubiläums-Symposiums stand der Umgang mit neuen Medien. Entstehen durch die Digitalisierung des Alltags neue Risiken für psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen?

Ich sehe tatsächlich mehr Chancen als Risiken durch die Digitalisierung. Man kann mit Online-Medien oder mit dem Smartphone sehr nützlich und kreativ umgehen. Es zeichnen sich auch in der Therapie Möglichkeiten ab, online face-to-face zu kommunizieren, ohne dass man sich körperlich gegenübersitzen muss. Außerdem können Patienten Therapieprogramme selbst bearbeiten und müssen so viel geringere Hemmschwellen überwinden, damit ihnen geholfen wird. Natürlich bergen die neuen Medien auch viele Risiken, ihr Gebrauch kann überfordern und sie können missbraucht werden. Cyberbullying ist z. B. ein sehr wichtiges Thema; gerade junge Menschen können dadurch sozial isoliert und in die Verzweiflung bis hin zu Selbsttötungen getrieben werden.

Insgesamt sehe ich aber eine große Chance, durch den Einsatz neuer Medien qualifizierte Beratungs- und Therapieangebote aufzubauen.

Und gibt es andererseits mehr suchtartige Erkrankungen durch intensive Mediennutzung?

Dafür gibt es erste Hinweise: Diejenigen User, die bereits psychische Probleme haben, nutzen häufig verstärkt und auch in problematischer Weise die neuen Medien. Gerade Menschen, die zu sozialen Ängsten neigen, sind hier aktiv. Dass jemand mit guter psychischer Gesundheit und einem intakten sozialen Umfeld zu einem problematischen User wird, ist aber eher unwahrscheinlich. Bei Kindern und Jugendlichen gilt jedoch, dass sie beeinflussbar sind, gerade in der Peergroup, und die Folgen ihres Handelns oft noch nicht vorhersehen können. Deshalb ist die Anleitung durch ihre Bezugspersonen in diesem Bereich besonders wichtig.

Inwieweit wirken sich Migration und Bevölkerungswachstum in Berlin auf die Arbeit in Ihrer Klinik aus?

Im Lauf der letzten Jahre ist unsere Klinik stetig gewachsen, im Rhythmus der fünfjährigen Krankenhausplanung in Berlin. Dennoch können wir den Patientenandrang meist nicht ausreichend bewältigen. Wir stellen fest, dass sich gerade unter den Notfallpatienten überdurchschnittlich viele Kinder und Jugendliche aus Migrantenfamilien befinden. Deren Belastungen sind vielfältig und groß: Traumatische Erfahrungen in den Herkunftsländern und während der Flucht gehen einher mit schwierigen Ankunftsbedingungen und erheblichen kulturellen Unterschieden hier bei uns.

Diesen Problemen können wir nur gerecht werden, wenn wir mehr Mitarbeitende mit Kenntnis des entsprechenden kulturell-religiösen Hintergrundes gewinnen und qualifizieren können und indem wir versuchen, die Eltern in die Behandlung einzubeziehen. Unser nächstes Projekt ist eine Eltern-Kind-Tagesklinik: So können wir die Familien als Ganzes in die Diagnostik und Behandlung integrieren.

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Corinna Riemer - Leiterin Unternehmenenskommunikation
Corinna Riemer
Leiterin Unternehmenskommunikation

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