Honi soit qui mal y pense

Der Anstand verbietet es, hier an dieser Stelle alles auszusprechen, was ausgesprochen werden könnte. Wir lassen dafür Bakterien für uns sprechen. Was Sie sich dabei denken, und was das über Ihre Fantasie sagt, bleibt hier unausgesprochen.
Honi soit qui mal y pense

Unser Patient ist ein 46 Jahre alter Mann, der in Deutschland geboren wurde und hier lebt. Er hat eine HIV-Infektion, die er durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr erworben hat. 2016 wurde sie diagnostiziert, damals hatte er ein Non-Hodgkin-Lymphom. Aber die HIV-Infektion unseres Patienten und das Lymphom können Sie wieder vergessen, weil sie für das Verständnis seiner Erkrankung irrelevant sind.

Die Anamnese ist hingegen – wie immer an dieser Stelle – relevant:
Vier Wochen vor seiner Vorstellung habe er Fieber entwickelt, zwei Wochen später habe er Schmerzen im Bereich des Kreuzbeins bekommen. Diese Schmerzen haben ihm zuletzt den Schlaf geraubt, und er könne – was für ihn noch schlimmer als die Schmerzen sei – nicht mehr abführen. Auch das Wasserlassen falle ihm zunehmend schwer. Er schwitze nachts und er habe innerhalb eines Monats sieben Kilogramm an Gewicht verloren. Am Ende dieser vier Wochen lag er in einem Kernspinntomographen.

Diese Untersuchung hatte seine Hausärztin mit der Frage nach Spondylodiszitis in Auftrag gegeben. Aber die MRT, die nur nativ durchgeführt wurde, lieferte keine Hinweise auf ein Spondylodiszitis. Stattdessen sah man – angeschnitten am unteren Rand der Bilder – präsakral eine glatt berandete mindestens 7cm große Läsion. Zur Abklärung dieses Befundes kam der Patient in unsere Klinik.

Unser Radiologe hielt die Läsion für ein muzinöses Adenokarzinom des Rektums. Endoskopisch sah man allerdings bis auf ein von einer extraluminalen Masse bedrängtes Rektum keine Schleimhautdefekte, keine Rötung und keinen Tumor.

Vielleicht doch ein Lymphom? Was tun? Noch mal ein Bild machen. Nicht, dass Sie denken, wir verschwenden Ressourcen. Die Rationale für die Wiederholung des Bildes war, dass wir uns von einer Wiederholung der Bildgebung mit Kontrastmittel erhofften, zwischen der favorisierten Diagnose „Tumor / Lymphom“ und der Differentialdiagnose „Abszess“ unterscheiden zu können. Das wiederum würde unser weiteres Vorgehen lenken: Endosonographisch-gesteuert biopsieren oder perkutan eine Drainage einlegen.

Das zweite Bild war in der Tat Weg weisend. Die Läsion sah nun – eine Woche nach dem ersten Bild und mit Kontrastmittel – aus wie ein Abszess und wir ließen CT gesteuert drainieren und wir wetteten auf die Erreger. Um es vorwegzunehmen, keiner von uns hat die Wette gewonnen. Die Mikrobiologie isolierte aus dem dränierten Eiter Streptococcus pneumoniae und nichts weiter.

Zwei Dinge sind hier ungewöhnlich. S. pneumoniae und das kleine Becken und S. pneumoniae und Abszess. Beides passt nicht zusammen. Pneumokokken gehören in die oberen Atemwege und den Mund. Sie verursachen Lungenentzündungen, Meningitiden und Blutstrominfektionen [1]. Aber Abszesse? Das ist nicht das wofür Pneumokokken bekannt sind. Durchsucht man die Titel der in PubMed gelisteten Publikationen nach den Schlagworten „S. pneumoniae„ AND „abscess“ finden sich gerade mal 55 Einträge (Stand 05.10.2024). Die Artikel berichten überwiegend von Einzelfällen oder kleinen Fallserien von Patientinnen und Patienten mit Abszessen der Lunge, des Gehirns und des Spinalkanals. Nicht gerade verwunderlich, ob der Prädilektion der Pneumokokken für diese anatomischen Strukturen.

Mit diesem Ergebnis unserer Literaturrecherche im Hinterkopf fragten wir uns, wie dieser Erreger um alles in der Welt ins kleine Becken unseres Patienten gekommen ist. Hämatogen oder per continuitatem? Die Blutkulturen, die wir vor Beginn der Antibiotikatherapie abgenommen haben, blieben ohne Wachstum. Und, Hinweise auf Infektionen im HNO-Bereich und der Zähne fanden wir nicht, sodass wir keine starken Argumente für eine hämatogene Genese der Infektion in der Hand hatten.

Also vielleicht doch per continuitatem? Den ersten Baustein zum Verständnis des Geschehens lieferte uns der Patient bei der täglichen Visite. Er berichtete, dass er jedes Mal, wenn wir die Abszesshöhle über die perkutan eingebrachte Drainage spülten, peranal Flüssigkeit absetze. Was tun? Noch mal reinschauen! Und jetzt, da sich das Rektum wieder aufdehnte fanden wir einen kleinen Schleimhautdefekt der Verbindung mit der Abszesshöhle aufwies. Ja, per continuitatem.

Zwei Artikel lieferten die fehlenden Bausteine zum Verständnis des Geschehens: Der erste Artikel beschreibt einen durch Pneumokokken verursachten Abszess in der Bauchwand einer Patientin, die sich selbst mit einem Küchenmesser verletzt hatte [2]. Wir haben unserer Fantasie freien Lauf gelassen und sie mit dem Titelbild dieses Infektoskops visualisiert.

Der zweite Artikel berichtet von einer sexuell aktiven Patientin mit einem durch Pneumokokken verursachten Abszess einer ihrer Bartholin-Drüsen [3]. Die Diskussion des Artikels beschäftigt sich mit der Frage nach der Pathogenese dieser Infektion und hebt auf die Bedeutung von Spucke ab.

Spucke spielt beim intimen zwischenmenschlichen Kontakt eine große Rolle. Spucke ist das beste Gleitmittel und in der Spucke leben Pneumokokken. Mit Spucke werden Gegenstände gleitfähiger gemacht und diese Gegenstände können Verletzungen verursachen in deren Folge Abszesse entstehen.

Honi soit qui mal y pense. – oder – Ein Schuft, wer Böses dabei denkt.

Unser Patient ist wieder gesund geworden.

Dr. Hartmut Stocker
Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie
Klinik für Infektiologie und HIV-Medizin

Literatur:

  1. Drijkoningen JJ, Rohde GG: Pneumococcal infection in adults: burden of disease. Clin Microbiol Infect 2014, 20 Suppl 5:45-51, DOI: 10.1111/1469-0691.12461.
  2. Kumar S, Umadevi S, Easow JM, Joseph NM, Srirangaraj S, Kumari K, Stephen S: Anterior abdominal wall abscess caused by Streptococcus pneumoniae in a patient with self-inflicted stab injury: An unusual presentation. J Infect Dev Ctries 2011, 5(4):307-309, DOI: 10.3855/jidc.1384.
  3. Soares R, Reis T, Valido F, Chaves C: Bartholin's gland abscess caused by Streptococcus pneumoniae in a sexually active young woman. BMJ Case Rep 2019, 12(4), DOI: 10.1136/bcr-2018-228492.