Strahlenpilze und die Straßen unserer Städte

Actinomyces, Aktinomykose, Strahlenpilz, Differentialdiagnose

Unser Bild zeigt eine inhomogene, pleuraständige Verschattung im apikalen rechten Unterlappen. Die Aufnahme entstand im Rahmen der Abklärung von seit Wochen bestehendem Husten und Gewichtsverlust bei einer 54 Jahre alten Patientin. Sie hatte neben Nikotingebrauch und schlechten Zähnen keine Vorerkrankungen. Weil es klinisch keinen Hinweis auf eine akute Infektionskrankheit gab und die Entzündungszeichen nur diskret erhöht waren wurde der Befund differentialdiagnostisch als Tumor gewertet. Natürlich haben die Radiologinnen und Radiologen in solchen Fällen oft Recht aber gelegentlich ist das Schicksal gnädig und am Ende kommt heraus, dass die Krebserkrankung mit Penicillin zur Ausheilung gebracht werden kann – ganz ohne Thorakotomie, Lobektomie und allen damit verbundenen Risiken.

Die Aktinomykose ist so ein seltener Glücksfall. In den Gewebeproben aus dem „Tumorgewebe“ fand die Pathologin Drusen (siehe unten), in der BAL-Flüssigkeit fand der Mikrobiologe nach langer Bebrütungszeit Actinomyces israelii.

Infektionen mit Actinomyces spp. verhalten sich oft wie Tumoren, sie sehen in der Bildgebung oft wie Tumoren aus, sie infiltrieren angrenzende Strukturen und sie lassen sich selbst im PET-CT nicht von Lungentumoren unterscheiden [1]. Es ist schon richtig, dass das was in der Bildgebung wie Krebs aussieht leider in den meisten Fällen auch wirklich Krebs ist. Bei der Einschätzung der Häufigkeit der alternativen Diagnosen lässt uns die Literatur allerdings im Stich: PubMed liefert fast ausschließlich Fallberichte von Aktinomykosen. Darin beschrieben sind Infektionen wirklich aller Organe und Strukturen, die zwischen dem Scheitel [2] und dem großen Zeh [3] liegen. Es gibt darüber hinaus wenig Substanzielles, das uns einen Eindruck über die Häufigkeit von nicht-malignen Ursachen bei Patientinnen und Patienten mit Tumorverdacht geben könnte. Und dennoch bleibt bei Krebsverdacht die Aktinomykose – neben anderen Erkrankungen wie der Tuberkulose, der Histoplasmose, der Kryptokokkose der Kokzidiomykose und der Dirofilariose, etc. [4] – eine Differentialdiagnose, die man auf dem Schirm haben sollte, egal welches Organ primär betroffen ist.

An dieser Stelle sei wieder der Zeitpunkt für unser – vielleicht schon etwas enervierendes – Mantra gekommen: Bitte vergessen Sie niemals die mikrobiologische Diagnostik, selbst wenn Sie sich absolut sicher sind, dass es sich um Krebs handelt. Wenn Sie die Proben ausschließlich in die Pathologie schicken, beschneiden Sie das Potential Ihrer diagnostischen Möglichkeiten. Am Ende könnte Ihnen der Pathologe mitteilen, dass die Läsion kein Tumorgewebe enthält, sondern vielmehr an eine Infektion denken lässt. Welcher Erreger könnte dahinterstecken? Spekulativ. Der Pathologe kann Ihnen nur ein wenig helfen, wenn er Drusen im vermeintlichen Tumorgewebe findet. Aber einen Erregernamen muss er Ihnen schuldig bleiben. Wenn keine Proben in die Mikrobiologie geschickt wurden, mit der Frage nach Bakterien, Pilzen und Mykobakterien lässt sich diese Frage einfach nicht mehr beantworten. Jede Fachdisziplin ist hoch spezialisiert und der Chirurg oder Onkologe muss sich um die besten operativen Techniken bzw. die Zytostatikatherapie kümmern. Die mikrobiologische Diagnostik hingegen delegiert man am besten an Infektiologinnen und Infektiologen – nicht nach der Probengewinnung, sondern vorher.

Und nun zu den Straßen: Bernhard von Langenbeck leitete von 1848 bis 1882 die zweite Chirurgische Klinik der Charité in Berlin. Er wurde zu dieser Zeit ein Superstar der Chirurgie. Er hatte 1845 eine Erkrankung „in kariös veränderten Lendenwirbeln eines Menschen“ beschrieben, die einmal den Namen Aktinomykose erhalten sollte. Seinen reichen Beiträgen für die Medizin wird im Berliner Langenbeck-Virchow-Haus und seiner Straße im Prenzlauer Berg gedacht. Das Begreifen und Benennen der Aktinomykose war aber das Verdienst von anderen Menschen: 1877 berichtete Otto von Bollinger (Pathologe in München) über hauptsächlich bei Rindern auftretende entzündliche Geschwulste in der anatomischen Region, die heute von der Hals-Nasen-Ohrenheilkunde als Heimatgebiet beansprucht wird. Zusammen mit dem Botaniker Carl-Otto-Harz versuchte Bollinger die Erkrankung zu ergründen, und es war Harz, der wegen seiner Beobachtung von „strahlig in die Peripherie wachsenden Elementen“ in den Läsionen der Tiere die Erkrankung Aktinomykose taufte. Damals waren die Geister noch durchdrungen von humanistischer Bildung und so kam die Namensgebung zustande: Das altgriechische Wort ακτίς bedeutet Strahl (jetzt wird auch der Begriff der aktinischen Keratose als durch Sonnenstrahlen hervorgerufene Hautveränderung verständlich). Das Wort μύκης bedeutet Pilz, was einen – verzeihlichen – Irrtum der Herren Bollinger und Harz dokumentiert, weil wir heute wissen, dass die Aktinomykose eine bakterielle und keine Pilzinfektion ist. Der von Harz erfundene Begriff „Strahlenpilz“ trägt dieser schönen Geschichte Rechnung. 1878 beschrieb James Israel (ein in Berlin geborener Urologe, Chirurg und Pionier der Asepsis) eine Erkrankung bei fünf Menschen als deren Ursache er den Strahlenpilz ausmachte. Seine 1885 veröffentlichte Monographie: „Klinische Beiträge zur Kenntnis der Aktinomykose des Menschen“ ist heute ein historisches Dokument und das Bakterium, das unsere Patientin erkranken ließ, trägt seinen Namen.

Wie gedenken wir den, an der Entdeckung von Actinomyces sp. beteiligten Menschen? Langenbeck ist – wie gesagt – in Berlin mit Straße und Hörsaal verewigt. Bollinger muss sich mit einer Straße in Altenkirchen seinem 1.300 Einwohner zählenden Geburtsort, der irgendwo zwischen Kaiserslautern und Saarbrücken liegt begnügen. Harz hat einen Karl-Harz-Weg in München, ausgerechnet in Lochhausen. Und was ist mit James Israel? Keine Straße bei Google Maps zu finden. Immerhin gibt es einen James-Israel-Saal im Jüdischen Krankenhaus in Berlin, einer glorreichen Institution deren chirurgische Leitung Israel von Langenbeck übernommen hatte und der er große Berühmtheit verschaffte.

Es gäbe noch so viel mehr über die Aktinomykose zu erzählen. Eine Frage, die wir hier noch kurz beantworten wollen ist die Frage nach den Drusen. Was soll uns dieses rätselhafte Wort vermitteln? Es hat unseres Wissens nach nichts mit der Religionsgemeinschaft zu tun. Die medizinischen Drusen, die in der englischsprachigen Literatur „sulfur granules“ heißen, sind die mit bloßem Auge sichtbaren Hinweise auf eine Aktinomykose. Sie sind wenige Millimeter durchmessende, gelbliche (sulfur) Körnchen, die man im „eitrigen Ausfluss“ der tumorösen Läsionen oder mikroskopisch in Gewebeschnitten finden kann. Sie sind fast pathognomonisch für eine Aktinomykose. Histologisch sehen sie aus wie Gebilde die in der mineralogischen Nomenklatur als Drusen bezeichnet werden: Bei der Erkaltung von Lava entstehen durch Gasblasen Hohlräume an deren Wänden mineralhaltiges Wasser auskristallisiert – Schicht für Schicht. Am Ende entstehen wunderschöne Objekte die wie eine Aktinomykose aussehen.

Wie dem auch sei. Unsere Patientin wurde ohne Lobektomie durch Antibiotikatherapie geheilt. Es lebe die (infektiologische) Differentialdiagnose.

Dr. Hartmut Stocker
Facharzt für Innere Medizin, ZW Infektiologie
Klinik für Infektiologie und HIV-Medizin

Literatur

1. Choi H, Lee H, Jeong SH, Um SW, Kown OJ, Kim H: Pulmonary actinomycosis mimicking lung cancer on positron emission tomography. Annals of thoracic medicine 2017, 12(2):121-124, DOI: 10.4103/1817-1737.203752.

2. Akhtar M, Zade MP, Shahane PL, Bangde AP, Soitkar SM: Scalp actinomycosis presenting as soft tissue tumour: A case report with literature review. International journal of surgery case reports 2015, 16:99-101, DOI: 10.1016/j.ijscr.2015.09.030.

3. Almarzouq SF, Almarghoub MA, Almeshal O: Primary actinomycosis of the big toe: a case report and literature review. Journal of surgical case reports 2019, 2019(11):rjz292, DOI: 10.1093/jscr/rjz292.

4. Rolston KV, Rodriguez S, Dholakia N, Whimbey E, Raad I: Pulmonary infections mimicking cancer: a retrospective, three-year review. Supportive care in cancer : official journal of the Multinational Association of Supportive Care in Cancer 1997, 5(2):90-93, DOI: 10.1007/bf01262563.

 

 

 

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