»Tuberkulose, was soll es denn sonst sein?«

Ja, auch Medizin wird von Menschen gemacht. Und menschliches Denken neigt mitunter dazu, sich auf Gleisen wohlzufühlen die in die falsche Richtung führen. Unser heutiges Infektoskop handelt von den Webfehlern unseres Denkens, die uns daran hindern, die einmal getroffene Weichenstellung zu ändern. Es handelt auch von der Chance, diese Webfehler auszubügeln: Gleichberechtigte Teamarbeit.
Onkologie, Tumor, Krebs, Plasmoblastisches Lymphom, Tuberkulose, Mycobacterium tuberculosis, Miliartuberkulose

Unser Patient ist vor 50 Jahren in Georgien geboren. Die Anamnese ist etwas unscharf aber wir wissen, dass er dort 2020 wegen einer Tuberkulose behandelt worden war. Zwei Monate lang stationär und sechs Monate lang ambulant mit »direkt observierter Therapie« (DOT). Erst ein Jahr später sei die Diagnose einer HIV-Infektion gestellt worden. Er habe eine HIV-Behandlung mit Dolutegravir, Tenofovir und Emtricitabin begonnen, einem modernen und zuverlässigen Therapieregime, welchem er bis Ende 2021 treu geblieben sei.

Dann sei er nach Deutschland gekommen wo er sich im Januar 2022 in einer mit uns gut befreundeten Lungenklinik vorstellt, mit Fieber und weil er sich in den vergangenen zwei Monaten abgeschlagen gefühlt und er 5 Kg an Gewicht verloren habe. Dem Patienten waren zu diesem Zeitpunkt wegen des damals fehlenden Versicherungsschutzes seine HIV-Medikamente ausgegangen.

Die Kolleginnen und Kollegen der Lungenheilkunde kennen seine Geschichte, genauso unscharf wie wir sie hier wiedergeben. Sie sehen in der CT des Thorax’ überall im Lungenparenchym verteilte hirsesamenähnliche hyperdense Läsionen. Der Hirsesamen – lateinisch milium – ein ein bis zwei Millimeter großes Körnchen war die Inspiration für den im 17. Jahrhundert geprägte Begriff der Miliartuberkulose [1].

In der Lungenklinik fokussierte man sich auf das Offensichtliche: Ein Rezidiv der Tuberkulose: Die Unterbrechung der HIV-Therapie, die B-Symptomatik und die miliaren pulmonalen Herde: Was soll es denn sonst sein? Man suchte nach der Tuberkulose – mittels bronchoalveolärer Lavage. Und was fand man mittels Mikroskopie und PCR? Nichts. Die Kultur dauert, und weil sie nach ein paar Wochen immer noch ohne Wachstum ist, wird der Patient ohne weitere Diagnose und Therapie entlassen – mit der nachvollziehbaren Einschätzung, er habe relativ sicher keine offene Tuberkulose.

Eineinhalb Monate später – er hat immer noch keine HIV-Medikamente – kommt er ins St. Joseph Krankenhaus mit denselben Beschwerden. Er fühlt sich abgeschlagen, fiebert und verliert weiter an Gewicht. Wir sind uns sicher, es besser zu können. Wir veranlassen eine CT »von Hacke bis Nacke« und warten, wie vor dem Weihnachtsbaum sitzend auf die Röntgendemo. Herr Trübenbach, der Chef unserer Radiologie stellt uns die Bilder mit den Worten vor: »Was auch immer Sie getan haben, Sie haben es gut getan: Die Läsionen in der Lunge sind verschwunden. Im Abdomen sieht es allerdings schlecht aus.« Er zeigt uns viele eingeschmolzene mesenteriale Lymphknoten, von denen wir drei für Sie im Bild farblich gekennzeichnet haben. So weit so gut. Was soll es denn sonst sein? Wir punktieren einen der Lymphknoten und die Mikrobiologin sieht mikroskopisch säurefeste Stäbchen. Über die PCR erfolgt der Nachweis von Mycobacterium tuberculosis-Komplex. Molekularbiologisch finden sich keine Hinweise auf Resistenzen gegen Rifampicin und Isoniazid. Die Kulturen aus der Lungenklinik sind immer noch ohne Wachstum ebenso wie die – noch kurz bebrüteten – Kulturen aus dem Lymphknoten.

Zu diesem Zeitpunkt hat der Patient nur noch 47 Helferzellen/µl und eine HI-Viruslast von über 1.000.000/ml. Im übrigen Labor sticht nichts weiter als eine diskrete Anämie sowie eine LDH von 873IU/l ins Auge.

Die Not mit SARS-CoV-2, in der wir uns zu diesem Zeitpunkt befinden, zwingt uns dazu, rasch Betten frei zu machen, für die vielen Menschen, die mit Verdacht auf COVID-19 einer stationären Aufnahme bedürfen. Unser Georgischer Patient ist klinisch stabil, er hat mittlerweile eine Krankenversicherung und so halten wir es für vertretbar, ihn zu einem erfahrenen niedergelassenen Infektiologen zu schicken mit der Bitte, die Therapie gegen HIV und die Tuberkulose ambulant einzuleiten. Wir halten es für vertretbar, weil wir ein Bauchgefühl ignorieren, das uns sagt: Irgendetwas an dieser Geschichte stimmt nicht. Wir verbalisieren dieses Unwohlsein in mehreren Fallbesprechungen, wir wischen das Unwohlsein weg und wir halten es trotz unseres Unwohlseins für vertretbar...

Uwe, der niedergelassene Kollege hört auf das Bauchgefühl, das auch ihn befällt. Er hält es nicht für vertretbar, und er schickt den Patienten wieder zurück.

Welche medizinischen Fragen wirft dieser Fall auf?

  1. Warum wachsen in der BAL-Flüssigkeit keine Mykobakterien und auch im Lymphknotenaspirat nicht?

  2. Warum schmelzen die Lymphknoten ein, obwohl der Patient kein relevantes T-zelluläres Immunsystem hat?

  3. Warum ist die LDH so hoch und warum steigt sie weiter?

  4. Warum sind die miliaren Herde in der Lunge innerhalb von 45 Tagen spontan verschwunden?

Welche (nicht immer nur rationalen) Antworten haben wir uns gegeben?

  1. Na ja, manchmal dauert es einfach länger bis die Kultur positiv wird.

  2. Na ja, manchmal reichen 47 Helferzellen um die Lymphknoten zum Einschmelzen zu bringen.

  3. Na ja, es wird schon mit der Tuberkulose zu tun haben.

  4. How the f**k should we know?

Diese Antworten kulminieren in dem Satz: »Was soll es denn sonst sein?«

Der Satz formt sich in unserem, zur Hochmut tendierenden Geiste gerne, weil wir es waren, die die Diagnose gestellt haben, weil wir es besser wissen. Gelegentlich formt er sich auch, weil wir es nicht besser wissen, weil wir nicht allwissend sind und gelegentlich formt er sich, obwohl wir es besser wissen – wie in diesem Fall.

Welche medizinischen Antworten sind retrospektiv plausibel?

  1. Weil der Patient in Georgien – trotz aller (unberechtigten) Vorurteile dem medizinischen System seines Landes gegenüber – eine suffiziente Therapie gegen seine Tuberkulose erhalten hatte und deshalb alle Mykobakterien längst tot waren, als er sich in Deutschland vorstellte. Aber auch fast zwei Jahre nach ihrem Tod sind die mykobakteriellen Leichen immer noch mikroskopisch sichtbar, ihre Erbsubstanz per PCR nachweisbar und selbst ihre Resistenzlage ist noch bestimmbar. Aber Tote werden nicht wieder lebendig weshalb die Kulturen ohne Wachstum bleiben.

  2. Weil der Patient bis zur Übersiedlung nach Deutschland seine HIV-Infektion mit guten Medikamenten unter Kontrolle gebracht hatte. Als Beleg dafür fanden wir, dass im Januar 2022 (nach kurzer Therapiepause) die HI-Viruslast kaum messbar war, und seine Helferzellen 126/µl zählten. Dank seiner Therapietreue hatte sich sein T-zelluläres Immunsystem verbessert und es konnte nun die (toten) Mykobakterien in den Lymphknoten attackieren, was zu deren Einschmelzung geführt hatte. Zur Erläuterung: Die scheinbare Verschlechterung von erfolgreich behandelten opportunistischen Infektionen nach Einleitung einer antiretroviralen Therapie ist ein bekanntes Phämonen. Es wird als inflammatorisches Immunrekonstitutionsyndrom (IRIS) bezeichnet und tritt unabhängig von der Vitalität der Erreger auf. Dem Immunsystem ist es egal, ob Erreger tot sind oder lebendig, es sieht plötzlich wieder und es beginnt zu kämpfen und macht dadurch alles scheinbar wieder schlimmer.

  3. Weil Menschen mit HIV-Infektion mit fortgeschrittenem Immundefekt nicht nur eine, sondern im Median zwei opportunistische Erkrankungen gleichzeitig haben. Eine Erkenntnis, die wir Ihnen im Infektoskop vom 14.10.2020 ans Herz gelegt haben und für deren Wahrheitsgehalt wir Ihnen gleich noch den Beleg liefern werden.

  4. Weil das Immunsystem des Patienten im Januar noch im Begriff war zu erstarken (Helferzellen: 126/µl) und die miliaren Herde Ausdruck der Reaktion dieses erstarkenden Immunsystems auf die (toten) Mykobakterien in seiner Lunge waren (IRIS). Als sein Immunsystem wegen der Unterbrechung der HIV-Therapie wieder kollabierte (Abfall der Helferzellen von 126/l auf 47/µl), lösten sich die Herde scheinbar spontan in Luft auf. Die eingeschmolzenen Lymphknoten hingegen hatten nicht die Zeit, um wieder zu verschwinden.

Was hat uns in die gedankliche Verengung getrieben?

Dieser Fall führt uns vor Augen, wie anfällig wir alle für das Phänomen der systematischen Verzerrung unseres Denkens bei medizinischen Entscheidungsprozessen (engl. bias) sind. Der hier exemplarisch zitierte Artikel fasst einige auf diesen Fall zutreffende Aspekte dieses Phänomens zusammen [2].

Das Schicksal unseres Patienten beginnt mit seiner Vorgeschichte, die in Form der anamnestischen Information »Tuberkulose« einen Anker ins Meer unseres Räsonierens geworfen hat. »Klar, Tuberkulose, was soll es denn sonst sein?« Die Erkrankung ist uns vertraut. Unser Patient hatte eine Tuberkulose und wir verankerten unser Denken bereitwillig an dieser Information. Dann finden wir auch noch radiologisch, mikroskopisch und molekularbiologisch die Bestätigung für unseren Anker. Wir hören auf, weiter zu überlegen. Wir geben uns mit einem vorzeitigen Abbruch des Denkprozesses zufrieden. Ein Phänomen das im Englischen als »premature closure« bezeichnet wird. Aber es kommt noch besser. Unser Gehirn neigt – besonders in Zeiten hoher Arbeitsbelastung und konkurrierender Interessen (siehe COVID) – dazu, alle Informationen so zu interpretieren, dass sie zu der von uns zuvor gefassten Arbeitshypothese passen (Einschmelzende Lymphknoten; Nachweis von säurefesten Stäbchen; erhöhte LDH). Und es neigt sogar dazu, sämtliche Informationen zu ignorieren, die unserer Hypothese widersprechen (erhöhte LDH; fehlendes Wachstum von Mykobakterien; verschwinden der miliaren Herde). Dieser Bestätigungsbias (engl.: confirmation bias) setzt uns auf ein Gleis, dessen einmal getroffene Weichenstellung sich nur schwer wieder umschalten lässt. Es sei denn, man ist von Kolleginnen und Kollegen umgeben, die sich eingeladen fühlen, auch während der Fahrt die Weichen neu zu stellen.

Letztlich hatte der Patient tatsächlich eine zweite opportunistische Erkrankung: Im Knochenmark fanden wir ein plasmoblastisches Lymphom. Die Tuberkulose wurde auch nach acht Wochen Bebrütungszeit kulturell nicht nachgewiesen, weder in der Lunge noch im Lymphknoten.

Tuberkulose, was soll es denn sonst sein? Wenn der Bauch sagt, irgendetwas stimmt nicht, dann ist es vielleicht doch irgendetwas anderes. Wir sollten stets – trotz des Vertrauens auf die evidenzbasierte Medizin – auch auf unsere Bauchgefühle und auf die Bauchgefühle anderer hören.

Zur Nachbereitung und Vertiefung dieses Infektoskops legen wir Ihnen einen Expertenbeitrag aus Bayern ans Herz: https://www.youtube.com/watch?v=bGwOCFMl_Hk

Dr. Markus Müller
Facharzt für Innere Medizin, Onkologie und Gastroenterologie, ZW Infektiologie
Klinik für Infektiologie und HIV-Medizin

Literatur

  1. Klippe HJ, Kirsten D: [Marcello Malpighi (1628 - 1694) and the terms miliary and tubercle. A completion of hitherto existing historical terminology]. Pneumologie (Stuttgart, Germany) 2011, 65(7):432-435, DOI: 10.1055/s-0030-1256492.
  2. Saposnik G, Redelmeier D, Ruff CC, Tobler PN: Cognitive biases associated with medical decisions: a systematic review. BMC medical informatics and decision making 2016, 16(1):138, DOI: 10.1186/s12911-016-0377-1.

 

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