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Warum die Mengenlehre nicht umsonst war

Wir bilden jeden Tag Schnittmengen um Diagnosen zu stellen. Welche Erkrankungen verursachen Bauchschmerzen? Welche Erkrankungen machen Fieber? Welche Erkrankungen lassen das Bilirubin ansteigen? In der Schnittmenge befindet sich - unter anderem - die Cholangitis. Genauso gut lassen sich mit diesem Trick manchmal die Erreger von Infektionserkrankungen identifizieren, wenn uns die Mikrobiologie im Stich lässt.
Karzinom Klebsiella pneumoniae Fusobacterium nucleatum

Unser heutiger Patient ist ein 60-jähriger Mann aus Berlin mit Übergewicht der soweit gesund war, bis ihn fünf Tage vor der Einlieferung durch den Rettungsdienst ein schweres Krankheitsgefühl mit hohem Fieber und Schüttelfrost sowie Schmerzen im rechten Oberbauch ereilte. Die Organe, die den SOFA Score ausschlagen lassen, waren bei Einlieferung kaum beeinträchtigt, der Patient machte trotzdem einen sehr elenden klinischen Eindruck. Der einzige, klinisch auffällige Befund war ein diskreter Druckschmerz über der Leber. Im Labor ein CrP von 292mg/l, ein PCT von 23ng/ml, zweifach über dem oberen Normwert liegende Transaminasen bei normwertigen Gallengangsenzymen, Bilirubin und Lipase. Das CT-Thoraxbild war unauffällig, und in der Leber kam eine maximal 90mm durchmessende irregulär begrenzte, hypodense Läsion zur Darstellung, die keine randständige Kontrastmittelanreicherung aufwies, solide wirkte und von den Radiologen als Inzidentalom bei Fettleber beurteilt wurde.

Vier Pärchen Blutkulturen wurden abgenommen, alle vor Beginn der kalkulierten Behandlung mit Piperacillin/Tazobactam. Daraufhin besserte sich der Zustand des Patienten – wie das manchmal so wunderbar geschieht – von Stunde zu Stunde.

Die Kuh war vom Eis. Zwei Tage später haben wir die Schnittbildgebung des Abdomens wiederholt, weil die Bauchschmerzen die einzige klinische Fährte waren, der wir folgen konnten (unser Bild). Aus dem Inzidentalom ist ein einschmelzender Herd geworden, den wir drainierten. Es lag nahe, an einen Leberabszess, verursacht durch eine hypervirulente Klebsiella pneumoniae zu denken (siehe Infektoskop vom 01.08.2020) aber die Blutkulturen waren am Tag zwei ohne Wachstum und am Tag drei immer noch ohne Wachstum, und auch aus dem Abszesspunktat ließ sich kulturell kein Erreger nachweisen. Klebsiella pneumoniae hätten wir sicher gefunden. Irgendetwas fehlte noch, um die Geschichte plausibel zu machen. Gespräche mit Patientinnen und Patienten sind immer hilfreich wie auch hier. In der ersten Anamnese war verloren gegangen, dass er sich einen Tag bevor das Fieber begann die Zähne professionell hat reinigen lassen. Niemand hat danach gefragt und auch er hielt diese Information nicht für erwähnenswert.

Nach der erneuten Anamnese hatten wir alles zusammen für den Trick mit der Mengenlehre.

Menge eins sind die zahllosen Erreger, die nicht in der Blutkultur wachsen: Malaria wächst nicht, Amöben, Echinokokken, Viren, Mykobakterien wachsen nicht. Chlamydien, Mycoplasmen, Coxiellen, Rickettsien, Legionellen, Borrellien wachsen nie. Cutibacterium acnes, Burkholderien, Francisellen, Brucellen wachsen nicht oder nur sehr langsam. Viele Anaerobier wachsen schlecht oder gar nicht. Und Fadenpilze wachsen auch nicht. Die Liste ist noch länger.

Menge zwei - unser Patient hat auf die Therapie sehr gut angesprochen - sind die Erreger die gegen Piperacillin/Tazobactam empfindlich sind: Das sind auch eine ganze Menge Bakterien wie Streptokokken, MSSA, Enterococcus faecalis, Enterobacteriaceae wenn sie keine ESBL oder eine andere Betalaktamase exprimieren, Anaerobier, Pseudomonas aeruginosa und noch ein paar andere.

Menge drei besteht aus den Mikroorganismen, die man bei der Zahnreinigung aus der Mundhöhle ins Blut spülen kann: Das bringt Streptokokken, gramnegative Bakterien, Anaerobier und Hefen (die Liste ist stark verkürzt) ins Spiel. Die Schnittmenge der drei ist recht einfach zu bilden und enthält als einziges Element Anaerobier. So einfach kann Infektiologie sein.

Eine Woche später bestätigte sich per eubakterieller PCR die Sinnhaftigkeit des Gedankenspiels: Fusobacterium nucleatum war die Lösung des Rätsels und gleichzeitig wieder ein Auftrag:

Fusobacterium nucleatum gehört zu einer kleinen Gruppe von Bakterien, deren Nachweis im Blutstrom mit (kolorektalen) Karzinomen assoziiert ist [1]. Andere Bakterien, die man in diese Menge – für die zukünftige Bildung von Schnittmengen – aufnehmen kann sind Streptococcus gallolyticus [2] und Staphylococcus lugdunensis [3].

Dr. Hartmut Stocker
Facharzt für Innere Medizin, Infektiologie
Chefarzt der Klinik für Infektiologie und HIV-Medizin

Literatur:

  1. Kwong TNY, Wang X, Nakatsu G, Chow TC, Tipoe T, Dai RZW, Tsoi KKK, Wong MCS, Tse G, Chan MTV et al: Association Between Bacteremia From Specific Microbes and Subsequent Diagnosis of Colorectal Cancer. Gastroenterology 2018, 155(2):383-390.e388.
  2. Olmos C, Vilacosta I, Sarriá C, López J, Ferrera C, Sáez C, Vivas D, Hernández M, Sánchez-Enrique C, García-Granja PE et al: Streptococcus bovis endocarditis: Update from a multicenter registry. American heart journal 2016, 171(1):7-13.
  3. Noguchi N, Fukuzawa M, Wajima T, Yokose K, Suzuki M, Nakaminami H, Kawai T, Moriyasu F, Sasatsu M: Specific clones of Staphylococcus lugdunensis may be associated with colon carcinoma. Journal of infection and public health 2018, 11(1):39-42.
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