Schwarmintelligenz ist gefragt

Wir haben von einigen Leserinnen und Lesern des Infektoskops die Rückmeldung erhalten, dass sie sich gerne häufiger – aktiv und intellektuell – bei der Lösung von ungelösten Rätseln beteiligen wollen. Wir haben es hier nicht mit einem Rätsel zu tun, weil ein Rätsel ein Jux ist. Heute stellen wir eine Frage, welche dringend beantwortet werden muss. Und zwar so schnell wie möglich! Nicht als sportliche und spaßige Aufgabe, sondern als eine Aufgabe, deren Lösung uns auf die Sprünge hilft, um gemeinsam einem Menschen in großer Not zu helfen.
ringförmig kontrastmittelaufnehmende Herde, Ventrikulitis, Ependymitis, Zerebritis

Unser Patient ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Er ist ca. 59 Jahre alt. Chronische Vorerkrankungen seien ihm nicht bewusst. Er nehme keine Medikamente ein. Er sei seit vielen Jahren Nichtraucher, er trinke nicht und nutze keine Drogen.

Zwischen 1980 und 2000 habe er immer wieder viele Wochen und Monate lang im Ausland verbracht und sich dort unter anderem mit der Ernährung der lokalen Bevölkerung befasst und diese auch konsumiert. So war er in Indonesien, im Nordosten Brasiliens, in Indien, Australien, Mexiko und Guatemala. Er habe bis vor 15 Jahren Schafe in Deutschland gezüchtet. In den letzten Monaten hatte er allerdings keinen Kontakt zu Tieren mehr gehabt, er arbeitet aber viel im Garten.

Mitte Oktober wurde er, wegen seit wenigen Tagen bestehender Kopfschmerzen, in einer neurologischen Abteilung eines Berliner Krankenhauses aufgenommen. Im Liquor fand man eine Pleozytose von 60/µl. Die Bildgebung des Gehirns und des Myelons waren unauffällig. Der Arztbrief sagt, er sei mit der Verdachtsdiagnose einer viralen Meningitis ohne Erregernachweis entlassen worden. Anfang November stellte er sich erneut in jener Klinik vor. Seit mehreren Tagen habe er wieder aufflammende Kopfschmerzen. Er habe einen Zusammenbruch erlitten, der ihn unfähig macht, sich auf den Beinen zu halten und zu arbeiten. Er verneinte Fragen nach Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust und anderen Beschwerden.

Im farblosen und klaren Liquor war mittlerweile die Zellzahl auf 232/µl angestiegen. Die Pleozytose war 100 Prozent lymphozytär. Das Eiweiß im Liquor betrug 1,1g/L, die Glucose war mit 16mg/dL (0,9mmol/L) erniedrigt. Das Laktat war 1,6-fach über den oberen Normwert erhöht. Keine oligoklonalen Banden, keine intrathekale IgG, IgA oder IgM Synthese im Quotientenschema. Die MR-Bildgebung des Gehirns zeigt wenige ringförmig kontrastmittelanreichernde Herde ohne relevantes Umgebungsödem.

Die Kollegen diagnostizieren eine – dem Patienten bislang unbekannte – HCV-Infektion mit einer Viruslast von 9,7 MIO IU/ml und sie testen mit einem Suchtest auf HIV, der positiv ausfällt. Deshalb verlegen sie den Patienten mit der Verdachtsdiagnose Toxoplasma gondii Enzephalitis zu uns.

Der internistische Untersuchungsbefund ist zum Zeitpunkt der Verlegung unauffällig. Neurologisch zeigt sich eine milde rechtsseitig betonte Paraparese. ASR bds. schwach, übrige MDR seitengleich mittellebhaft-lebhaft auslösbar, Babinski bds neg., Pallanästhesie bds malleolär, Dys- und Hypästhesie des rechten Beins sowie an den Fußsohlen bds, kein sensibles Niveau, keine Reithosenanästhesie. Stand- und Gangataxie, Ataxie im KHV re>li.

Und jetzt wird es ein wenig sonderbar: Die HI-Viruslast ist extern unterhalb der Nachweisgrenze, die Helferzellen liegen bei 817/µl (33%), so dass wir zunächst von einem falsch positiven Suchtest ausgehen. Dann erhalten wir das positive Ergebnis des Western blots (HIV-1). Die Viruslast im Blut und im Liquor beträgt 28 bzw. 27/ml. Der Patient gibt an, er wisse nichts von einer HIV-Infektion und er nehme keine Therapie.

Wie ging es bildgebend weiter?

Bildgebung Neuroachse: Die MRT des Gehirns zeigt jetzt eine lineare subependymale Kontrastmittelanreicherung des dorsalen Anteils des Pars centralis sowie des Trigonums des linken Seitenventrikels. Hinzu kommen insgesamt sieben, maximal 7mm durchmessende, ringförmig kontrastmittelanreichernde Herde ohne relevantes Umgebungsödem. Sie sind in den nativen T1w-Aufnahmen nicht abgrenzbar.  Fünf der Läsionen befinden sich supratentoriell im subkortikalen und periventrikulären Marklager sowie im Corpus und Splenium des Balkens. Zwei davon liegen infratentoriell im Hirnstamm. Die Herde sind nicht diffusionsgestört. Es findet sich kein meningeales Enhancement und es gibt keine Zeichen einer Liquorzirkulationsstörung oder einer Ischämie. Hinzu kommen mehrere ringförmig kontrastmittelanreichernde Herde im cervikalen und thorakalen Myelon, die im Oktober definitiv noch nicht vorhanden waren.

Zusammengefasst ist die Anzahl der Herde, sowie deren Durchmesser leicht progredient und es gibt neue Herde im Myelon. Keiner der Herde ist einer unkritischen Biopsie zugänglich. Extraneurale Bildgebung: Die Computertomogramme von Thorax und Abdomen sind unauffällig, lediglich im linken Hilus findet sich ein kleiner Lymphknoten.

Bis auf eine Bronchoskopie haben wir noch keine endoskopische Diagnostik durchgeführt. Ein Herzecho steht aus. Eine Beckenkammpunktion findet gerade statt.

Was haben wir noch untersucht?

Labor: Wir sehen eine sich über die Wochen entwickelnde Bizytopenie mit 73.000 Thrombozyten/µL und einer Leukozytopenie mit 3.600/µL. Der Patient hat keine Eosinophilie.

Die Elektrolyte sind im Normbereich, die Retentionsparameter sind im Normbereich, die Transaminasen sowie die Gallengangsenzyme sind im Normbereich, die Pankreaswerte sind im Normbereich, das CRP ist im Normbereich und die BSG senkt nicht ein bisschen. Der lösliche Interleukin-2-Rezeptor ist 399 U/ml und damit nicht erhöht. Die INR beträgt 1,0.

Wir haben eine Bronchoskopie mit BAL gemacht: Der Patient hat eine lymphozytäre Alveolitis, die CD4/CD8 Ratio beträgt 5,7 (Normbereich für Nichtraucher 1,1-3,5).

In der Zwischenzeit haben wir vier Lumbalpunktionen durchgeführt. Alle zeigen das gleiche entzündliche Liquorsyndrom mit klarem, farblosem Liquor, einer lymphozytären Pleozytose, erhöhtem Eiweiß, niedriger Glucose und erhöhtem Laktat. Die Zellen sind in der Durchflusszytometrie polyklonal. Es ergeben sich keine Hinweise auf ein ZNS-Lymphom oder eine Meningeosis carcinomatosa.

Mikrobiologie Liquor: Kulturell finden wir wiederholt weder Bakterien noch Pilze (wobei Herr Rickerts vom Konsiliarlabor für Kryptokokkose und seltene Systemmykosen des RKI im Serum, Urin und im Liquor gerade noch dabei ist, nach Pilzen zu suchen). Das ZNS PCR-Panel im Liquor war negativ, die eubakterielle PCR im Liquor war negativ, das CrAg im Liquor und im Serum waren negativ. Die Toxoplasma gondii PCR im Liquor steht noch aus. Die spezifischen PCRs auf die Herpesviren CMV, HSV und VZV sind negativ. Die EBV-PCR ist positiv (EBNA1 IgG im Blut ist positiv). Weitere erregerspezifische PCR-Untersuchungen aus dem Liquor stehen noch aus.

Mikroskopisch und per PCR finden sich wiederholt in großvolumigen Liquor Portionen keine säurefesten Stäbchen bzw. keine M. tuberculosis Komplex DNA. Die Kulturen sind bisher ohne Wachstum von Mykobakterien. Der IGRA Test (T-Spot) war negativ.

Mikrobiologie Blut: Die Blutkulturen mit verlängerter Bebrütungsdauer sind bisher ohne Wachstum

Serologie:

Bartonella henselae IgG und IgM: negativ
Bartonella quintana IgG und IgM: negativ
Borrelia burgdorferi: negativ
Brucella IgA, IgG und IgM: negativ
Coxiella burnetii IgG (Phase 2): 5,0; IgM: negativ
Coxiella burnetii IgG und IgM Phase 1: <1:16
Echinokokken IgG: <5,0 (negativ)
Francisella tularensis: negativ
Schistosoma mansoni IgG EIA: negativ; PHA <1:80
Strongyloides stercoralis IgG: negativ
Trypanosoma cruzi EIA: negativ
TPPA: negativ
Toxoplasma gondii IgG: <0,18; IgM-Index 0,21 (beides negativ)
Zystizerkose IgG: negativ
Zystizerkose Westernblot: folgt

Autoimmundiagnostik:

ANA: nicht nachgewiesen
ANCA: nicht nachgewiesen
Rheumafaktor: 35,5 IU/ml (ULN: 14)
ACE: 19U/L (erniedrigt)
C3; C4: im Normbereich.
IgA erniedrigt (0,5 LLN), IgG und IgM im Normbereich

Was haben wir bisher therapeutisch gemacht?

2017 wurden Kriterien vorgeschlagen, um den Einschluss von Patientinnen und Patienten in Studien zur tuberkulösen Meningitis (TBM) zu standardisieren [1]. Wendet man diese Kriterien auf unseren Patienten an, so kommt er auf einen Score von 8 bzw. von 10 (wenn man die Läsionen als Tuberkulome zählt). Damit hat unser Patient eine mögliche TBM was uns dazu verpflichtete, eine antituberkulöse Therapie einzuleiten. Das haben wir auch vor einigen Tagen getan. Dexamethason haben wir nicht gegeben um die weitere Diagnostik nicht zu beeinflussen. Aber so richtig fehlt uns der Glaube.

Somit bleiben wir auf der Suche nach der Diagnose unseres Patienten und wir fragen:

Welche infektiologischen Erkrankungen müssen wir noch aktiv suchen?

Welche nicht-infektiologischen Erkrankungen müssen wir noch aktiv suchen? Welche Tumorerkrankungen, welche rheumatologischen Erkrankungen, welche Stoffwechselerkrankungen, etc. etc.

Wir freuen uns über Input von Infektiolog:innen, Tropenmediziner:innen, Mikrobiolog:innen, Neurolog:innen, Rheumatolog:innen, Onkolog:innen und allen anderen Expert:innen, die zündende Ideen haben und sie gemeinsam diskutieren wollen. Ihre Gedanken und Rückfragen können Sie uns per Mail an infektiologie@sjk.de mit dem Betreff „Infektoskop“ senden. Wir werden alle Beiträge veröffentlichen, wenn Sie uns Ihre Erlaubnis dazu erteilen. Einen Preis gibt es nicht zu gewinnen, Ein gemeinsamer Erkenntnisgewinn ist garantiert.

Herzliche Grüße
Das Team der Klinik für Infektiologie

Literatur

1. Marais BJ, Heemskerk AD, Marais SS, van Crevel R, Rohlwink U, Caws M, Meintjes G, Misra UK, Mai NTH, Ruslami R et al: Standardized Methods for Enhanced Quality and Comparability of Tuberculous Meningitis Studies. Clin Infect Dis 2017, 64(4):501-509, DOI: 10.1093/cid/ciw757.

 

Hinweis
Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter.